Samstag, 7. Juni 2008

Anstalt Hephata Mönchengladbach

26. April 2008

Per Mail nachgefragt
sehr geehrte damen und herren,

ich beschäftige mich aktuell mit der geschichte eines heimkindes, das in der bildungs- und pflegeanstalt hephata in mönchengladbach sieben jahre verbracht hat. in dieses heim kam er am 24. februar 1949 und blieb dort bis zum 4. oktober 1956. die dortigen erlebnisse schildert er als schrecklich, besonders beschäftigt ihn immer noch dieser vorfall:

das kind soll rudi rauschild heißen. dieses kind verschluckte sich an einer fischgräte. die schwester glaubte jedoch, das kind mache allen nur etwas vor. deshalb soll sie ihm das essen in den mund gestopft haben. schließlich sei der kopf des kindes nach vorn gefallen. man habe den leblosen körper aus dem speisesaal getragen. von dem kind habe man nie wieder etwas gehört.

ich wäre ihnen dankbar, wenn sie mir mitteilen könnten, was aus rudi rauschild geworden ist. danke.

mit freundlichen grüßen

heinz-peter tjaden
krumme straße 1
26384 wilhelmshaven

29. April 2008
Was ist aus Rudi Rauschild geworden?

Dieses Bild wird der 69-Jährige nicht los: Im Tagesraum wird Fischsuppe serviert, ein Junge verschluckt sich an einer Gräte und ringt nach Luft. Eine Schwester vermutet offenbar, dass der Junge lediglich bockig ist, reißt seinen Kopf nach hinten und füttert ihn. Weiter und immer weiter - bis der Kopf des Jungen nach vorne fällt. Die Schwester hält inne und ruft Hilfe. Der leblose Körper des Jungen wird aus dem Speisesaal getragen.

„Von diesem Jungen haben wir nie wieder etwas gehört“, sagt Bernd von Eicken, geboren am 4. Juni 1938 in Wuppertal, der als Dreijähriger in ein Heim gesteckt worden ist. An den Namen dieses Heimes erinnert er sich nicht mehr. Dokumente über seine Kindheit und über seine Jugendjahre gibt es erst ab dem 24. Februar 1949. An diesem Tag wird er nach Mönchengladbach in die evangelische Bildungs- und Pflegeanstalt „Hephata“ gebracht. Dort hat sich auch die Szene im Tagesraum abgespielt. Bernd von Eicken ist sicher: „Dieser Junge hieß Rudi Rauschild.“

Die evangelische Stiftung „Hephata“ blickt auf eine fast 150-jährige Geschichte zurück, Behindertenarbeit macht sie heute in Düsseldorf, Essen, Hilden, Jüchen, Meerbusch, Mönchengladbach und in Wegberg. Die Nazis haben aus dem Heim, in dem Bernd von Eicken aufgewachsen ist, 180 Kinder geholt und ermordet. Daraus leitet die Stiftung ihren aktuellen Auftrag ab. Dann weiß man auch, was aus Rudi Rauschild geworden ist? Eine Antwort auf diese Frage gibt es noch nicht.

Den Heimalltag schildert Bernd von Eicken so: Die Kinder stehen um 6 Uhr auf, waschen sich und machen die Betten, im Tagesraum gibt es um 7 Uhr Frühstück mit anschließender Andacht. Der Schulunterricht beginnt um 8 und endet um 12 Uhr. Auch das Mittagessen wird im Tagesraum serviert. Bernd von Eicken: „Unter der Woche meistens Fischsuppe.“

Nach dem Essen heißt es „Kopf auf den Tisch bis 15 Uhr“, blickt ein Junge auf, kommen die Schwestern und drücken seinen Kopf wieder nach unten. Wenn sich ein Kind dagegen wehrt, bekommt es Schläge mit dem Rohrstock. Erst nach 15 Uhr dürfen die Jungen auf die Toilette, anschließend müssen sie den Tages- und den Schlafraum putzen. Die Zeit zum Spielen ist knapp bemessen, sie dauert bis zum Abendessen, das um 18 Uhr auf den Tischen steht. Um 19 Uhr müssen die Kinder im Bett sein.

Jeden Donnerstag wird das Heim auf Hochglanz gebracht. Mit der Hand entfernen die Jungen den alten Bohnerwachs und wachsen den Boden neu ein. Eine Schwester passt auf, bis die Bohnermaschine zum Einsatz gekommen ist. Gefällt ihr das Ergebnis nicht, müssen die Jungen von vorn anfangen.

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30. April 2008
Sehr geehrter Herr Tjaden,

heute möchte ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Anfrage bei uns eingegangen ist und bearbeitet wird. Leider können wir derzeit zu dem geschilderten Vorfall noch nichts sagen, da die Angaben von Herrn von Eicken sich auf ein Geschehen beziehen, das mehr als 50 Jahre zurück liegt. Wir werden uns bemühen, das Geschehen zu recherchieren, bitten aber um Ihr Verständnis dafür, dass dies einige Tage dauern kann. Sobald wir etwas herausgefunden haben, werden wir Sie informieren.

Falls Herr von Eicken weitere nähere Angaben zum Geschehen machen kann, zum Beispiel den Namen des Hauses nennen kann, in dem der Vorfall geschehen ist, oder den Namen der Schwester erinnert oder etwa den Zeitpunkt bzw. das Jahr des Geschehens, bitten wir um Ihre Mitteilung. Dies wäre für die Recherchen sehr hilfreich.

Mit freundlichen Grüßen
Dieter Kalesse
Abteilungsleiter der Abteilung Kommunikation
Evangelische Stiftung Hephata
Hephataallee 4
41065 Mönchengladbach

1. Mai 2008
Kindheit wie im Gefängnis

„Noch heute habe ich Angst, wenn ich in geschlossenen Räumen bin. Ich habe schlicht Platzangst“, blickt Bernd von Eicken auf eine Heimkindheit zurück, die er unter ständiger Aufsicht verbracht hat, der Tagesablauf war geregelt, sogar zur Toilette durfte er nur zu bestimmten Uhrzeiten.

„Es war wie im Gefängnis“, sagt der inzwischen 69-Jährige, Platz zur Entfaltung habe es nicht gegeben. Angst vor dem Eingesperrtsein ist seine ständige Begleiterin - im Bus genauso wie in einem Aufzug.

Auch in den Sommerferien durften die Kinder ihre Seelen nicht baumeln lassen, sie wurden zur Gartenarbeit eingeteilt, die Schwestern waren allgegenwärtig und gaben sich unnahbar: „An soziale Kontakte kann ich mich nicht erinnern. Zu den Schwestern konnten wir kein Verhältnis aufbauen.“ Einzige Ausnahme sei eine Lehrerin gewesen, die sich mit ihm unterhalten habe und sich um ihn kümmerte, wenn er einmal „über die Stränge“ schlug.

Mit 16 in die Männerstation

Im April 1954 wurde Bernd von Eicken in die Männerstation gesteckt, dort lebten nur wenige Gleichaltrige, die meisten Heiminsassen waren körperlich oder geistig behindert, einige litten unter epileptischen Anfällen. Nachts wurde die Station verriegelt, die Türen der Schlafräume schlossen sich. Für die Notdurft stand ein Gemeinschaftseimer neben den Betten.

Auch in der Männerstation endete die Nachtruhe um 6 Uhr morgens. Eine Trompete rief zum Bettenmachen, zum Waschen, zum Frühstück, zur Andacht und um 8 Uhr zum Morgenappell auf dem Hof. Die männlichen Aufpasser wollten „Brüder“ genannt werden, im Umgang mit ihren „Zöglingen“ bedienten sie sich eines rüden Tons. Die 16- bis 50-Jährigen wurden zur Arbeit eingeteilt.

Dazu heißt es in einer schriftlichen Bescheinigung der evangelischen Stiftung „Hephata“ vom 26. Januar 1989: „Bis zum April 1954 besuchte er die Heimsonderschule. Nach der Schulentlassung wurde er im Rahmen der Beschäftigungstherapie zunächst in der Anstreicherei und dann in der Landwirtschaft unserer Einrichtung beschäftigt.“

Bei dieser Sprachregelung ist es bis heute geblieben, wenn ehemalige Heimkinder von „Zwangsarbeit“ sprechen, spricht die katholische Kirche immer noch von Therapie, die evangelische Kirche erkennt „keine Systematik“.

Werte für die Kirchen

Werte für die Kirchen haben sie aber zweifellos geschaffen: Bernd von Eicken half beim Wiederaufbau und bei der Renovierung der „Hephata“-Gebäude, in der warmen Jahreszeit wurde er in der Landwirtschaft eingesetzt: „Ich arbeitete auf dem Benninghof, der zur Institution ´Bethel´ gehörte. Von Mönchengladbach nach Mettmann wurde ich mit einem geschlossenen Kastenwagen gefahren. Der Fahrer hieß Hans Voss. Er fuhr auch alle landwirtschaftlichen Maschinen des Hofes. Außerdem war er der Chaffeur des Hausvaters.“ Damit gemeint war der Leiter des Benninghofes.

Auf diesem Hof gab es drei Arbeitskolonnen, jede Kolonne bestand aus 25 bis 30 Arbeitern. Die Arbeiter teilten sich eine Gemeinschaftsunterkunft, alle kamen aus Heimen. Auf diesem Hof begann der Tag ebenfalls um 6 Uhr, für die Verteilung der Arbeit war ein Aufseher mit Vorarbeiterfunktion zuständig.

Im Frühjahr mistete Bernd von Eicken den Kuhstall aus, er pflanzte Kartoffeln und düngte den Boden, im Sommer machte er Heu und band Getreide.

Siehe auch

13. Mai 2008
15-Jähriger muss Fahrer sexuell befriedigen

"Bis zum April 1954 besuchte er die Heimsonderschule. Nach der Schulentlassung wurde er im Rahmen der Beschäftigungstherapie zunächst in der Anstreicherei und dann in der Landwirtschaft unserer Einrichtung beschäftigt." Das steht in einer Bescheinigung, die Bernd von Eicken am 26. Januar 1989 als ehemaliger „Pflegling“ der evangelischen Bildungs- und Pflegeanstalt „Hephata“ in Mönchengladbach bekommen hat.

An anderer Stelle heißt es: "Am 3. 4. 1956 nahm er eine Beschäftigung bei einem Landwirt in Radevormwalde auf. Nach einer Probezeit von 6 Monaten wurde Herr von Eicken dann aus unserer Betreuung entlassen. Bei den Beschäftigungen in unserer Einrichtung handelte es sich nicht um sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung wurden nicht entrichtet."

Zwei Jahre Arbeit für Gotteslohn?

Der heute 69-Jährige hat also zwei Jahre lang in der Anstreicherei und in der Landwirtschaft nur für einen Gotteslohn gearbeitet? Wie unzählige Heimkinder in den 50er-, 60er- und 70er Jahren in kirchlichen und staatslichen Einrichtungen? Dazu sagte der Caritas-Präsident Peter Neher der katholischen „Tagespost“ zufolge am 16. Februar 2006, dass die Entschädigungsansprüche ehemaliger Heimkinder geprüft werden müssten, auch der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Der Rest ist immer noch meistens Schweigen.

Die Caritas reagiert auf keine meiner entsprechenden Nachfragen, auf einen Beschluss des Ausschusses warten die Betroffenen immer noch. Kurz vor Weihnachten 2006 sind ehemalige Heimkinder angehört worden, der Evangelische Pressedienst berichtete am 15. Dezember 2006: "Wolfgang F. ist eines der ehemaligen Heimkinder, die dem Petitionsausschuss ihren Leidensweg in kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen der 1950er und 1960er Jahre geschildert haben. 184 Mal, sagt er, sei er ausgerissen. Er war in verschiedenen staatlichen Heimen in Nordrhein-Westfalen. Selbst in die Psychiatrie wurde er gesteckt, weil er immer wieder weglief: `Die Gitterstäbe dort waren dicker als die, die ich später im Knast gesehen habe.`"

Bernd von Eicken berichtet nicht nur über unbezahlte Arbeit und über „Schläge im Namen des Herrn“, sondern auch über sexuellen Missbrauch.

Vergünstigung gegen Sex

Bei den Fahrten zu den Feldern ist es eng gewesen auf dem Unimog-Anhänger. Doch der Fahrer bot dem 15-Jährigen einen Platz im Führerhaus an. Die Bedingung sei gewesen: Der Junge musste am Vorabend jeder dieser Vergünstigungen auf das Zimmer des Fahrers kommen und ihn sexuell befriedigen. Bernd von Eicken erinnert sich: „Als junger Heranwachsender, der in einer Gruppe von Menschen mit schweren geistigen Behinderungen keine Möglichkeit hatte, eine eigene Sexualität zu entwickeln, wusste ich zunächst natürlich nicht, dass dieses Verhalten des Fahrers nicht richtig ist.“

Das sei ihm erst viel später bewusst geworden, es habe lange gedauert, bis er diese Erlebnisse einigermaßen verarbeitet habe. Im „Hephata“-System aus Befehl und Gehorsam sei Widerspruch nicht möglich gewesen. Bernd von Eicken: „Irgendwann fragt man nicht mehr, man widersetzt sich auch nicht mehr.“

Siehe auch

19. Mai 2008
Kindheit liegt hinter einem schwarzen Tuch

„Meine Kindheit lag komplett hinter einem schwarzen Tuch“, blickt Bernd von Eicken auf seine Suche nach seinen Eltern zurück. Diese Suche hat mit einer Tabakdose begonnen.

Als Dreijähriger landete der heute 69-Jährige in einem Heim in Wuppertal-Vorwinkel, am 24. Februar 1949 wechselte er in die evangelische Bildungs- und Pflegeanstalt „Hephata“ in Mönchengladbach, er erlebte Drill und Prügel, als 15-Jähriger wurde er sexuell missbraucht, als Jugendlicher arbeitete er unentgeltlich in einer Anstreicherei und in der Landwirtschaft. „Das hat zur Thereapie gehört“, sagen heute noch Kirchenvertreter und wimmeln so Entschädigungsansprüche ehemaliger Heimkinder ab.

Innere Unruhe

Im Oktober 1956 wurde Bernd von Eicken aus dem Heim entlassen, bei einem Landwirt hatte er eine sechsmonatige Probezeit verbracht, in einer Papierfabrik in Hückeswagen fand er einen neuen Arbeitsplatz. Doch er blieb nicht lange: „Ich hatte wegen meiner Kindheit in Heimen eine ständige Unruhe.“ Diese innere Unruhe trieb ihn auf eine Wanderschaft durch Deutschland.

1960 kam er als Schleifer und Lackierer bei der Osnabrücker Firma Karmann unter. Einem Arbeitskollegen erzählte er: „Ich habe keine Eltern.“ Einige Tage später brachte dieser Kollege eine Tabakdose mit. Auf dieser Dose stand der Name des mittelständischen Unternehmens „von Eicken“. „Such deine Eltern“, sagte der Kollege.

Die Nachforschungen begannen: Im November 1960 schrieb Bernd von Eicken an das Standesamt in Wuppertal-Elberfeld, das Standesamt antwortete am 2. Dezember 1960: „Wir können Ihre Fragen leider nicht beantworten.“ Gegen eine Gebühr von einer Mark bekomme er jedoch seine Geburtsurkunde. Da es auf dieser Urkunde keine brauchbaren Hinweise zum Verbleib seiner Familie gab, schaltete Bernd von Eicken im Februar 1961 das Wuppertaler Amtsgericht ein. So erfuhr er am 24. Februar 1961 den neuen Namen seiner Mutter, zur Adresse hieß es: unbekannt. Über seinen Vater erfuhr er nichts. Erst mit Hilfe der Illustrierten „Quick“ endete die Suche erfolgreich. Seine Mutter wohnte in Wuppertal-Elberfeld.

Mutter lebt in Wohnheim

Bernd von Eicken kündigte seinen Arbeitsplatz in Osnabrück, packte seine Habseligkeiten, machte sich auf den Weg zur angegebenen Adresse und stand vor einem Wohnheim. Seine Mutter lebte dort in einem Zimmer, er klopfte an: „Sie erkannte mich zu meinem Erstaunen sofort wieder.“ Die Nacht verbrachte er auf einer Couch in ihrem Zimmer, am nächsten Morgen ging sie mit ihrem Sohn zum Wohnungsamt in Wuppertal, eine größere Bleibe bekam sie aber nicht.

Bernd von Eicken fand Arbeit auf einer Baustelle, schlief weiter auf der Couch, aber: „Einen Weg zueinander fanden wir nicht.“ Statt dessen wurde er von seiner Mutter ausgenutzt, sie kassierte seinen Lohn und trug ihn in eine Kneipe. Als sie wieder einmal die Zeit in der Gaststätte totschlug, kaufte er sich eine Zugfahrkarte nach Köln und verschwand ohne ein Wort des Abschieds.

Auch in Köln kam Bernd von Eicken nicht zur Ruhe, das enttäuschende Wiedersehen mit seiner Mutter wühlte ihn auf, er kehrte nach Osnabrück zurück und arbeitete ab dem 1. Juni 1961 wieder in der Lackiererei der Firma Karmann. Oft dachte er an die Tabakdose mit dem Namen „von Eicken“, jeden Augenblick rechnete er damit, dass der Kollege auftauchte, der ihn auf die Suche nach seiner Familie geschickt hatte, aber: „Ich habe nie wieder von ihm gehört.“

Siehe auch

Folge 5

7. Juni 2008
Nichts gefunden

Sehr geehrter Herr Tjaden,

heute erhalten Sie meine noch ausstehende Antwort. Sie werden verstehen, dass wir aufgrund des mehr als 50 Jahre zurück liegenden Geschehens nicht mehr auskunftsfähig sind. Natürlich haben wir unser Archiv ausführlich überprüft, dabei aber keinerlei Anhaltspunkte über einen vermeintlichen Vorfall – wie ihn Herr von Eicken schildert – gefunden.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Kalesse
Abteilungsleiter der Abteilung Kommunikation
Evangelische Stiftung Hephata
Hephataallee 4
41065 Mönchengladbach